Der Wandertaler

Einfach hören.

Die Erzählkultur, pharmacy ein initiativer Bamberger Verein rund um Erzählen, Geschichten und Wundersames, hat eine Aufgabe gestellt. Alle, die sich letzten Mittwoch zu ihrem Stammtisch verlaufen hatten, sollten zu einem Gegenstand, der aus einem geheimnisvollen Krabbelsack gefischt werden konnte, eine kleine Geschichte schreiben. Mein Ding war ein Gauditaler zu etwas was ich nicht kenne. Ob die Bewertung der Erzähloberen Lob oder Tadel für mich bedeutet, weiß ich nicht. Aber ich bin gespannt.

Der Wundertaler

Vorsicht! Aus der Bahn!
Flott und verwegen rollte und huschte und hüpfte er dahin. Die Straße entlang. Kein Bordstein war ihm zu hoch, kein Spalt zwischen den Pflastersteinen zu tief. Nur vor den Gulliöffnungen musste er sich in Acht nehmen. Wie schnell war man dort auf nimmerwiedersehen verschwunden.
Doch der kleine nachtschwarze Taler verschwendete keinen Gedanken an die Straßenfallen für Münzen, Parkscheine und Stöckel der Stöckelabsätze. Er musste weiter. Wohin? Das war egal. Es war Sandkerwa. Der Slalom zwischen den 1000 Beinen elektrisierte ihn.
Hopps! Eine Stufe hinauf, hier konnte er das Treiben besser beobachten. Der Taler, aus orientalischem Zedernholz geschnitzt, in den Mysterien des Orients gewässert und die Geheimnisse von 1001 Nacht in sich verborgen, gönnte sich eine kleine Pause. Die Jagd zwischen den Spaziergängern war gerade das Richtige für ihn. Er, der aus den himmelhohen Zedern des Libanon geschnitzt war. Die Legende sagt, dass der Baumeister, der einst die Schiffe Sindbads zimmerte, aus einem Holzbalken, der übrig geblieben war, eine Handvoll Windtaler schnitzte, damit sie, wie der große Seefahrer Arabiens, durch die Welt stürmten und deren Geschicke in sich aufnehmen konnten.
Doch genug in der Vergangenheit sinniert. Wieder hinein in die heiterste Heiterkeit, die die alte Stadt im Sand zu bieten hat.
Mit hohem Sprung katapultierte er sich von dem Absatz wieder auf die Straße.  Vorbei an eislutschenden Kindern, schlendernden Verliebten – einmal musste er sogar einem Hund ausweichen, der sich zu dem Kunststück anschickte auf 3 Beinen zu stehen.  Doch dieser Köter warf ihn, unvorhersehbar für den weisen Geschichtentaler, in die Hände eines Lausbuben in kurzen Hosen.
»Die Bamberger Gaudimaschine!«, hielt er seinen Zufallsfund triumphierend hoch. »Und ich hab sie gefunden.«
Die Tarnung, die auf der Oberfläche aufgedruckt war, neben einem listigen Fuchs in der Mitte, konnte der Junge nicht durchschauen. Denn die Verziehrungen aus Sternen und Symbolen des Wüstenhimmels seiner Heimat war nur im Mondlicht zu erkennen, wenn man neben dem Brunnen des Lustgartens des Kalifen und Gönners des Schiffsbaumeisters stand. Doch das brachte dem Taler im Augenblick nicht viel. Vorerst konnte ihn nichts und niemand aus den klebrigen Zuckerwattehänden befreien. Erst wenn die besagte Gaudimaschine erreicht wäre. Doch es kam anders.
»Es reicht, jetzt geht es heim«, war eine typische Mutterstimme zu hören.
»Nein, nicht jetzt«, bettelte der Junge. »Ich muss unbedingt noch einmal zu Gaudimaschine.«
»Da warst du heute erst drei Mal.«
»Gell, du sagst auch, dass das zu wenig war?«
»Ich sage, dass es für heute reicht.«
»Manno! Ich hab aber noch …«
»… genug erlebt. Andermal ist auch wieder ein Tag«, vervollständigte die Mutter den Satz. »Du weißt, als Kind kann man häufig noch nicht entscheiden, wann Schluss sein muss.«
»Aber ich bin schon in der Pubertät«, protestierte der Junge.
»Umso schlimmer«, kam zur Antwort, begleitet von einem Ruck, als die Frau den Jungen fest an die Hand nahm und an sich zog. Dieser kam so plötzlich, dass der Schleckklebstoff den Taler unmöglich weiter festhalten konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde vergaß er, selbst über die plötzliche Bewegung erschrocken, den schwarzen runden Gegenstand in der Hand des Jungen festzuhalten. Und schon war es passiert. Mit einem weiten Sprung flog das Ding mit den beinahe unsichtbaren Symbolen, die es als Geheimnisträger auswies, hoch durch die Luft und gewann beim Rücksturz so viel an Flugenergie, dass es schneller, als es denken konnte die Rathausbrücke hinauf schoss.
Auf frisch gemalten Aquarellbildern hinterließ der Taler eine verschönernde Spur in sich hineinwirbelnder Farben. Mit einem Oopps, O,o, tschuldigung, gab er ein kurzes Gastspiel im Geigenkoffer eines fahrenden Musikantenstudenten und katapultierte sich, Ruhe und Sicherheit suchend auf die Brüstung. Doch, oje, der freie Fall zwischen den barockenen Gemälden der Rathausaußenwand und der kleinen Kneipe mit den schiefen Zimmern, ließ in dem schwarzen Etwas nur noch einen kurzen Gedanken aufblitzen: Bei allen Geistern des Orients! Sindbad lässt grüßen! Die 7 Meere zu meinen Füßen und sie kommen rasch näher.
Mit der Eleganz eines windschnittigen Wellenstürmers hechtete der Taler in die Fluten. Strömungen schleuderte ihn hierhin, Strudel dorthin. Die Speichen eines verrosteten Fahrrads erwiesen sich als gefährliches Labyrinth. Ein alter Stiefel als tiefe Höhle des einäugigen Zyklopen, einem Warzenwels mit Algen und Muscheln übersäht.
Unter dem Schutz eines halb verfallenen leicht gebogenen Holzes, welches noch immer sorgfältig die Form aufwies, die ihm der Büttner einst zugedacht hatte, fand der weltgereiste Taler endlich etwas Ruhe.
Es war ein wundervoller Platz, gegenüber des Kranen, halb dem Ufer hinauf. Der Zederntaler konnte sich nicht sattsehen, im Sand, zwischen Domberg und Klein-Venedig einen der malerischten Plätze der Welt gefunden zu haben. Der Himmel über ihm und Bamberg um ihn herum. Was konnte es Schöneres geben? Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat – und satt war er immer noch nicht.
Doch es näherte sich wieder die Zeit des Sandfestes. Das spürten sogar die Karpfen und Forellen in der Regnitz. Schnappten nach allem, was ihnen vor die Lippenmäuler kam. Der Taler meinte zuerst, der Riesenfisch, der sich mit schwarzem Schatten näherte, wollte ihn nur zur Freude des Tages küssen, als er seine pumpenden Lippen immer näher kommen sah. Und es war ein Kuss, wie er inniger nicht sein konnte. Zumindest aus dem Erleben des Zaubertalers heraus. Das Maul sog ihn ein. Bewegte ihn zwischen seinen Kiemen und spuckte das seltsame Teil in hohem Bogen hinaus.
»Eher ersticke ich, als dass ich das runde kleine widerwärtige Ding fressen könnte«, schimpfte er.
Ein Kuss, ein schwindelerregender Höhenflug, das muss der Augenblick höchster Liebe sein, freute sich der Taler und tanzte vor Freude wieder über Stufen und Stege, Bordsteine und Menschenbeine, Spaziergänger und Spaziersteher.
Und wie er gerade, mit fröhlichem Herzen, über die Liebe nachsann, während er besonders gern unter den langen Beinen und kurzen Röcken entlang sprang, griff man wieder nach ihm. Daumen und Zeigenfinger pressten ihn, hochhaltend.
»Einmal Karussell für das schönste Schneckla«, lud der Mann seine Freundin ein, die er in der anderen Hand hielt.
»Du weißt wohl genau, wie man die Mädels schwindelig macht?«
Seine Augen grinsten hintergründig.
»Und welches Karussell macht einen Schwerenöter wie dich schwindelig?«
Das Grinsen verschmitzte zunehmend in den Mundwinkeln. Dann nahm er den Wundertaler, steckte ihn ordentlich in das sommerliche Dekollette seiner Begleiterin und glucksend schenkte sie ihm dafür Kuss und Schmus. So wie die beiden der Natur folgen, so tat es auch der Taler. Er folgte der Schwerkraft. Bluse, bauchfrei, Boden.
Nach soviel Sinnenlust war sogar ihm schwindelig. Immer wieder musste er sich im Kreis drehen. Immer enger wurden die Kurven. Schließlich schlackerte seine Gestalt bedenklich, erst in die eine, dann in die andere Richtung. Und Plumps!, lag er da.
Wer weiß, wie die Abenteuer des kleinen runden Dinges aus dem fernen Orient wohl weiter gegangen wären, wäre da nicht eine Geschichtensammlerin des Weges gekommen. Achtlos waren viele an dem schwarzen Taler auf schwarzem Pflaster vorbeigegangen. Nicht so die Frau mit dem  großen Schatzsack. Sie wusste sofort, dass das einer war, der viele Erlebnisse in sich trug. Vorsichtig hob sie ihn auf, wischte ihn sorgfältig ab, besah ihn aufmerksam und ließ ihn freudestrahlend in den großen Schatzsack gleiten.
Er hätte sich erst einmal die Augen reiben müssen, wenn er welche hätte, um etwas in dem Halbdunkel zu sehen.
»Gestatten, ich bin süß und meine Geschichten sind süß«, begrüßte ihn ein kleiner, noch ordentlich verpackter Kaffeezucker.
»Krachbumm, Action gibt es nur mit mir!«, stellte sich ein Auto-Scooter-Bon vor.
»Eigentlich bin ich ja der größte. Wenn ich mal ausgepackt werde, werde ich mindestens einen Meter lang«, prahlte das Kondom.
»Aufgeblasener Kerl«, beschwerte sich eine Teetüte.
»Du bist besser ganz ruhig. Du bist ja leer«, gab der Gummischutz zurück.
»Aber ihr Inhalt soll wie eine leuchtende Rakete zu den Sternen geflogen sein«, flüsterte ehrfürchtig ein kleiner Teddybär.
Der wundersame Taler freute sich. »Hier bin ich richtig. Ich trage auch Geschichten und Märchen und Legenden in mir.« Gespannt blickten ihn die anderen an.
Welche würde er wohl als erstes erzählen?